Anlässlich der Veröffentlichung von »Das Haus am Meeresufer« hat sich die Autorin Joséphine Nicolas Zeit für ein Interview mit uns genommen:
In Ihrem Buch »Das Haus am Meeresufer« lernen wir Eileen Gray kennen. Wann stießen Sie zum ersten Mal auf diese historische Person?
Der Name Eileen Grays begegnete mir zum ersten Mal Anfang der Neunzigerjahre, ich studierte gerade Innenarchitektur. In der Bibliothek entdeckte ich eine Biografie, auf dem Cover das Profil einer eigenwilligen und eleganten Frau. Sie weckte mein Interesse. Ihr Schicksal beschäftigt mich noch heute. Wie konnte die erste Architektin der Moderne, deren Möbelentwürfe mittlerweile auf Auktionen Rekordsummen erzielen, jahrzehntelang ins Vergessen geraten?
Die Villa E.1027 ist nicht nur auf dem Einband abgebildet, sondern auch titelgebend. Eileen Gray hat sie entworfen. Welche Bedeutung hatte das Haus für Eileen Grays Leben und für Ihren Roman?
Obwohl Eileen Gray in späteren Jahren zwei weitere Häuser realisierte, wird die Villa E.1027 als Höhepunkt ihrer Karriere angesehen. Auf nonkonforme Art erschuf sie eine einzigartige Symbiose aus Architektur und Innenarchitektur, die Bedürfnisse des Menschen stets im Fokus. Gegensätzlich zu Le Corbusiers technisierten Wohnmaschinen waren Eileen Grays Überlegungen dem Gefühl gewidmet. Sie betrachtete ein Haus als Rückzugsort, als eine Art Schneckenhaus. Der 1929 fertiggestellte Bau gilt als Meisterstück der Moderne, ein Gesamtkunstwerk. Und Eileen Gray war Autodidaktin!
Interessanterweise hätte sie sich ohne den Zuspruch ihres Partners, des Architekturkritikers Jean Badovici, nicht an die Planung eines solchen Projekts gewagt. Aus dieser Situation eine Geschichte zu entwickeln, die sich entlang dem Zeitgeschehen in Paris und Südfrankreich erstreckt und schließlich in eine gebaute Liebeserklärung mündet, erschien mir reizvoll.
Wie viel Fiktion und wie viele wahre Begebenheiten haben Eingang in den Roman gefunden?
Nachdem ich die Biografie von Peter Adam gelesen hatte, entschloss ich mich, die Geschichte aus Eileens Sicht zu schreiben. Ihm fühlte sich die Avantgardistin im hohen Alter verbunden, ihm hat sie während ausgiebiger Gespräche die eigene Lebensgeschichte erzählt – wenngleich sie eine nicht immer verlässliche Zeugin gewesen sei. Die Erinnerungen bilden eine Wirklichkeit, die Grays Gedächtnis widerspiegelte; diese entspricht nicht grundsätzlich dem neuesten Forschungsstand, ermöglichte meinem Schreiben jedoch jene Dramaturgie, die Geschichten zum Leben erwecken. Im Nachwort des Romans führe ich die Abweichungen vom tatsächlichen Geschehen explizit an.
Die Widmung in Ihrem Roman lautet: »Den Frauen, die aufbegehren. Die sich erheben.« Wie würden Sie die Frauenfiguren in Ihrem Roman charakterisieren?
Die Frauen der Left Bank schufen vier Zentren, die das kulturelle Geschehen der Stadt Paris signifikant veränderten: die literarischen Salons von Gertrude Stein und Natalie Barney sowie die beiden Buchläden von Sylvia Beach und Adrienne Monnier. Um sie herum gruppierte sich eine Gemeinschaft, die mutig traditionelle Männerprivilegien durchbrach und die Emanzipation vorantrieb. Ich beschreibe Frauen, die sich damals trotz unterschiedlichster Schicksale miteinander verbündeten, um für die eigenen Rechte zu kämpfen. Mit erstaunlicher Parallelität kämpfen wir noch heute. Ich beabsichtigte also eine zeitlose Widmung, die die Leistung der Frauen im Allgemeinen würdigt.
Und Eileen Grays Persönlichkeit?
Eileen Gray besaß einen eigenwilligen Charakter, sie war verletzlich und poetisch. Die Ängste ihrer Kindheit konnte sie nie gänzlich ablegen. Unsicherheiten versuchte sie mit Kühle zu begegnen, im nächsten Moment war sie wieder empathischer Natur. Die Darstellung ihrer Persönlichkeit war sehr komplex, eine Herausforderung. ›Die Architektur ist eine Frau‹ ist jener Satz, mit dem sich meine Geschichte vor vielen Jahren zu entfalten begann. Ich habe ihn Eileen Gray zum Leitmotiv gesetzt, um eine der kraftvollen Seiten ihres Denkens zu zeigen.
Schon Ihr Roman »Tage mit Gatsby« spielte in den 1920er-Jahren und an der Côte d’Azur. Was fasziniert Sie an dieser Epoche und Region?
Die 1920er-Jahre waren geprägt von einer außergewöhnlichen Atmosphäre. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte eine rege Aufbruchstimmung, das Leben schien voller Verheißungen. Insbesondere Paris genoss den Ruf einer mondänen, kosmopolitischen Schönheit, frei von Zwängen und Unterdrückung. Kunst, Literatur und Musik bestimmten den Alltag der Bohème, die ich mir sehr lebendig vorstellen kann.
Die südfranzösische Küste greife ich thematisch gern auf, da ich mehrere Monate des Jahres in Nizza lebe und arbeite. Die Villa E.1027 befindet sich nur wenige Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Ich bin mit der Umgebung Roquebrunes nahe Monaco vertraut, das Schreiben über das Haus am Meeresufer war mir ein besonderes Anliegen und Heimspiel zugleich.
Und zum Schluss ein schöner Tagtraum: Wenn Sie einen Tag in der besagten Villa verbringen könnten, wie sähe dieser Tag aus?
Die Villa E.1027 habe ich aufgrund meiner Recherche über die Jahre häufig aufgesucht. Ich kenne viele Details und Geschichten, und bin doch stets aufs Neue fasziniert. Die Villa ist Teil meines Lebens. Ich kenne das ungesicherte Haus aus den Neunzigerjahren, verwahrlost und traurig, und die unterschiedlichen Sanierungsphasen. Ich bin während variierender Tageszeiten durch die Räume gelaufen, habe Lichteinfall und Stimmungen aufgenommen. Während der Romanentstehung habe ich mich gedanklich immer wieder mit Eileen Gray unterhalten. Was hättest du gesagt, gefühlt? Wie würdest du entscheiden? Ich denke, ein perfekter Tag wäre mit einer Zeitreise in jene Jahre des Erbauens verbunden. Ich würde Eileen Gray gern persönlich treffen, mit ihr gemeinsam über das Grundstück laufen, reden – und ein Glas Rosé trinken.