Einst waren sie unzertrennlich: Lincoln, Teddy und Mickey haben während ihres Studiums am Minerva College in Connecticut eine Freundschaft geschlossen, die sie auch heute, fast ein halbes Jahrhundert später, und obwohl sie seitdem ganz unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben, noch miteinander verbindet. Nach vielen Jahren treffen sie sich nun für ein Wochenende in Martha’s Vineyard, wo sie damals von ihrem Studentendasein Abschied genommen haben, ehe sie weit voneinander entfernt ihr Erwachsenenleben begannen. Doch hält das Wiedersehen trotz aller immer noch empfundenen Vertrautheit weniger ein unbeschwertes Schwelgen in Nostalgie für sie bereit als die sich immer stärker aufdrängende Erkenntnis, dass es da noch immer einige graue Flecken in ihrer Vergangenheit gibt, die danach schreien, aufgearbeitet zu werden — und die das Fundament ihrer als unverbrüchlich betrachteten Freundschaft ins Wanken zu bringen drohen.
Denn — und hier verschmilzt der Autor Richard Russo seinen Roman über eine Männerfreundschaft erzählerisch gekonnt mit der spannungsgeladenen Atmosphäre eines Kriminalplots — bei ihrem letzten gemeinsamen Treffen als Studenten war auch ein Mädchen namens Jacey dabei, in die sie alle drei mehr oder weniger heimlich verliebt waren, deren Verlobung mit einem reichen angehenden Juristen aus ebenso gutem Hause wie sie selbst sie aber alle davor zu bewahren schien, ihre Freundschaft durch rivalisierendes Balzverhalten in Gefahr zu bringen. Unmittelbar nach diesem letzten Treffen aber verschwand Jacey spurlos, um bis heute nicht wieder aufzutauchen. Flucht oder Verbrechen? Geplant oder erzwungen? Einiges an diesem Vorfall ist ungeklärt geblieben, und wirft nun auch Jahrzehnte später seine emotionalen Schatten auf das Wiedersehen der Freunde. Verdrängte Erinnerungen bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche, lassen auf einmal einiges in einem anderen Licht erscheinen und konfrontieren die drei Freunde mit dem Verdacht, dass sie nicht nur ihre gemeinsame Freundin Jacey weniger gut kannten, als sie dachten, sondern womöglich auch zueinander nicht immer ganz aufrichtig waren.
Russo erzählt aus den verschiedenen Perspektiven der drei Freunde und wechselt zwischen dem für alle aufwühlenden Wiedersehen in der Gegenwart und den im Zuge dessen aufkommenden Erinnerungen an damals. So entwirft er bewegende persönliche Lebensgeschichten, die er überdies in einen deutlich konturierten gesellschaftlichen Kontext bettet. Denn auch wenn sich ihre Wege am renommierten Minerva College kreuzten, entstammen die Freunde doch jeweils ganz unterschiedlichen Milieus: Lincoln aus einem konservativen Elternhaus, Teddy aus einer akademisch geprägten Familie und Mickey, der Sohn einer italienischen Einwanderergroßfamilie, aus der Arbeiterschicht. Ebenso wie der Vietnamkrieg als gesellschaftlich und politisch mit hoher Symbolkraft aufgeladener historischer Moment Leben und Denken der Figuren entscheidend beeinflusst, spielt auch die soziale Herkunft eine große Rolle für die so unterschiedlichen Lebenswege, die sie nach ihrem Studium einschlagen. Auf diese Weise gelingt es Russo, in narrativem Gewande zugleich ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama der Vereinigten Staaten Amerikas der letzten 50 Jahre zu zeichnen, das bisweilen erhellende Einblicke in die tieferliegenden Ursachen von so manchen aktuell aufflackernden Verwerfungen gibt.
Und doch wird der Roman auch getragen von dem aufrichtigen jugendlichen Elan und der innigen Sehnsucht der Freunde, sich von ihrer sozialen Herkunft zu befreien und ein unverfälschteres Leben zu führen als ihre Eltern. Ihr Wiedersehen ist daher auch der Moment, in dem sie ihre einstigen Ideale und Hoffnungen mit dem, was sie geworden sind, vergleichen. So ist Lincoln nun ausgerechnet im Immobiliengeschäft tätig und damit gerade innerhalb des Systems, das er einst kritisierte; Teddy korrigiert Manuskripte anderer Leute und tritt damit in die Fußstapfen seiner Lehrereltern, anstatt es endlich zu wagen, selbst einen Roman zu schreiben. Das ist schmerzhaft und desillusionierend, aber eben nicht nur, da Russo zum Glück einen zwar entlarvenden, aber auch gütigen, wertschätzenden Blick auf die Diskrepanzen in ihren Lebenskonzepten wirft.
So wird der bewegende Freundschaftsroman, der spannende Kriminalroman, der gut beobachtete Gesellschaftsroman stellenweise sogar zu einem philosophischen Roman, der Fragen aufwirft, wie das Ich sich zur Welt und zu sich selbst verhalten soll, kann oder muss, welche Grenzen und welche Möglichkeiten sich bei der Verwirklichung der eigenen Ziele auftun und wie wir mit existentiellen Bedrohungen wie Krieg oder Krankheit umgehen können. Besonderes erzählerisches Feingefühl beweist Russo hier, wenn es darum geht, die Verletzlichkeit der Körper und der Seelen am Beispiel seiner Figuren spürbar zu machen.
Diese Verletzlichkeit spielt auch in eine andere Thematik hinein, die den Roman von Anfang bis Ende durchzieht und auf sehr differenzierte Weise intensiv hinterfragt und ausgelotet wird: der Thematik der Männlichkeit nämlich, die sich vom Motiv der unverbrüchlichen Männerfreundschaft bis hin zur strukturellen Gewalt in den verschiedensten Schattierungen erstreckt. Da stehen auf der einen Seite die Erfahrungen eines Expolizisten, der in seiner Laufbahn unzählige Male Zeuge häuslicher Gewalt wurde, und ebenso unzählige Male erlebte, wie diese Fälle erfolgreich vertuscht wurden. Aber sind nicht auf der anderen Seite die drei Freunde mit ihrer unschuldigen Verliebtheit ein überzeugendes Gegenbeispiel männlichen Dominanzstrebens? Doch sind nicht auch ihnen gewisse Geschlechterstereotype eingeimpft, hat Lincoln nicht erst spät begriffen, dass die von ihm lange nicht hinterfragte Unterordnung seiner Mutter Teil eines Familienmythos war, den sein Vater zur Aufrechterhaltung seiner Ehre errichtet hatte, da er nicht zulassen konnte, dass seine Frau mehr Vermögen besaß als er? Und beruht nicht Teddys religiös überhöhte Weigerung, Frauen näher an sich heranzulassen, in Wahrheit auf einer zur Gänze verinnerlichten Angst, wegen seiner körperlichen Versehrtheit seine männliche Würde zu verlieren? Zu guter Letzt offenbart Jaceys erst am Ende des Romans enthüllte schockierende Geschichte die ganze Komplexität von sozialen Vorurteilen und sexuellem Machtmissbrauch, von fragiler Körperlichkeit und der Unaufrichtigkeit eines Lebens im materialistisch-gesellschaftlichen Korsett; genauso aber auch die Sehnsucht, sich davon zu befreien, und den unbändigen Drang, diese Sehnsucht zu verwirklichen, bis einen unweigerlich die conditio humana in seine Schranken weist, den einen früher, den anderen später.