Interview mit der Autorin Roisin Maguire

02.06.2024
© Muiread Kelly

Vor deiner schriftstellerischen Karriere hattest du verschiedene Jobs und Berufe. Du hast als Türsteherin in einem Nachtclub, als Busfahrerin und Grundschullehrerin gearbeitet. Wie bist du zum Schreiben gekommen? 
Ich habe schon immer geschrieben und noch begeisterter, nachdem mich ein Lehrer im Alter von zehn Jahren zur Seite nahm und mir sagte, dass ich Schriftstellerin werden könnte. Ich schrieb lange, komplizierte Geschichten über Prinzen und Fantasiewesen und war hocherfreut, als zwanzig Jahre später J.K. Rowling mit genau der Sorte von Geschichte, die mir am besten gefiel, so großen Erfolg hatte. Das gab mir die Gewissheit, dass die Menschen die Art von Abenteuern mochten, über die ich schrieb, und obwohl sich die Themen im Laufe der Zeit änderten und reiften, spornte mich das an, abends und bis spät in die Nacht zu schreiben – selbst nach einem harten Arbeitstag als Lehrerin oder Busfahrerin. Ich habe mehrere Preise für meine Kurzgeschichten gewonnen, bevor mein ältester Sohn auf die Welt kam und mir alle kreativen Säfte aussaugte. Er war absolut kein Schläfer. Ich schrieb kein einziges Wort mehr, bis mein jüngstes Kind vier Jahre alt war und endlich durchschlief, und stellte erfreut fest, dass mir diese Tätigkeit noch genauso viel Spaß machte wie zuvor. Obwohl ich Kurzgeschichten schrieb, wollte ich immer versuchen, einen Roman zu schreiben, sobald ich Zeit dazu fände. Als die Pandemie ausbrach, wurde mir klar, dass es nie eine bessere Gelegenheit geben würde, und so schrieb ich ›Mitternachtsschwimmer‹.

Wie sieht dein Schreibprozess aus? 
Chaotisch. Ich füttere mehrmals die Katze, putze die Fenster, räume die Lebensmittel im Kühlschrank um, mache mir etliche Tassen Tee, die ich kalt werden lasse, bis ich es einfach nicht mehr aufschieben kann, mich an meinen Schreibtisch zu setzen. Meine Familie weiß, wenn es soweit ist, weil das Haus dann sehr sauber ist und die Katze sehr fett wird. Sobald ich jedoch an meinem Schreibtisch sitze und einen Satz beginne, verschwinde ich. Ich verschwinde in der Geschichte, in dem Klang und dem Geschmack der Worte in meinem Kopf und auf meiner Zunge, und es kann Stunden dauern, bis ich wieder auftauche – meist aufgrund von Hunger oder Durst oder weil jemand seine Fußballshorts verloren hat. Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl, sich erst einmal hinzusetzen und sich auf das Verschwinden vorzubereiten, weshalb ich es so lange aufschiebe; aber wenn ich nach dem Verschwinden wieder auftauche, bin ich nie müde oder erschöpft. Ich bin immer regeneriert, energiegeladen und glücklich. 

Wo schreibst du? Wie sieht dein Arbeitsplatz aus? 
Ich schreibe an einem alten Schreibtisch im Schlafzimmer, am Fenster im ersten Stock, denn direkt vor der Tür liegen die Irische See und eine weite Fläche mit goldenem Sand. Bei Vollmond reicht die Flut bis an die Gartenmauer heran, was nichts Gutes für die Langlebigkeit des Hauses verheißt, aber wir hoffen, dass es uns überleben wird, bevor die Wellen es verschlingen. Im Winter kann das Meer böse und faszinierend sein, und das ist die Zeit, in der es mich am meisten inspiriert, aber in Mitternachtsschwimmer schreibe ich über das Sommermeer: verführerisch, glitzernd und trügerisch. Jedes Mal, wenn ich schreibe, begleitet mich das Meeresrauschen, ein ständiges Rauschen in der Luft um mich herum, weshalb es so viel von ›Mitternachtsschwimmer‹ durchdringt. Es ist vielmehr eine Hauptfigur als ein Hintergrundelement in diesem Roman.

Was war die ursprüngliche Inspiration für ›Mitternachtsschwimmer‹?
Als die Pandemie ausbrach und alles so schrecklich und beängstigend war, war meine jüngste Tochter im frühen Teenageralter und befürchtete, dass die Dinge nie wieder gut werden würden. Alles, was wir hörten, waren negative Nachrichten. Ich beschloss, über die positiven Dinge zu schreiben, die ich tagtäglich um mich herum beobachten konnte – das unermüdliche Streben nach Verbundenheit zwischen den Menschen, selbst wenn diese verboten war, die Freundlichkeit und Großzügigkeit derer, die eigentlich nicht genug für sich selbst hatten; die Beziehungen, die sich in kleinen, eng verbundenen Gemeinschaften wie der, in der ich lebte, festigten und wuchsen. 

Die Geschichte spielt in dem wunderschönen kleinen Örtchen Ballybrady. Basiert dieser fiktive Ort auf einem realen?
Ich lebe in einem winzig kleinen Dorf namens Ballyhornan an der Ostküste Nordirlands. Wir nennen es »Gottes eigenes Land«, weil es geschützt und durch die Anwesenheit des Meeres gesegnet ist. Ballybrady ist lose an diesen Ort angelehnt, aber die Charaktere sind ein Mischmasch aus den vielen verschiedenen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin. Die einzige Konstante, die beide Orte verbindet, ist die Irische See, die im Buch, so hoffe ich, ebenso real ist wie in der Welt, und im Leben der Protagonisten eine ebenso starke Kraft der Veränderung darstellt wie in meinem. Ich war fast mein ganzes Erwachsenenleben lang Tauchlehrerin, Fischerin, Leistungssportlerin und Ganzjahresschwimmerin, und das Meerwasser hat bei mir und meinen Freunden und meiner Familie viele Male seine beträchtliche Regenerationskraft entfaltet. Ich mag besessen klingen, aber ich bin einfach nur dankbar.

Die Figuren in ›Mitternachtsschwimmer‹ wirken sehr real. Gibt es Überschneidungen mit Menschen in deinem Umfeld? Wie viel von dir steckt in der Figur der Grace?
Die Pandemie und die Wechseljahre trafen mich zur gleichen Zeit, es gab also eine Menge emotionaler, körperlicher und sozialer Umwälzungen. Um diese tiefgreifenden Veränderungen zu bewältigen, beschloss ich, über die ideale Frau zu schreiben, die Art von Frau, die ich sein wollte, wenn die Metamorphose vorbei war, wenn alles wieder in Ordnung war, wenn ich wusste, wer ich war. Also begann ich, Grace zu erschaffen – angriffslustig, aufmerksam, energisch und stark. Natürlich wurde Grace im Laufe des Romans durch die Interaktion mit anderen Figuren beeinflusst und verändert –niemand ist eine Insel –, aber sie lernt, dass Verbundenheit erlösend ist und Verletzlichkeit eine Stärke und keine Schwäche. Die anderen Figuren in ›Mitternachtsschwimmer‹ bestehen aus flackernden Erinnerungen an Menschen, denen ich vor Jahren begegnet bin, an Menschen, die ich gut kenne, und solche, an denen ich auf der Straße vorbeigelaufen bin, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. 

Welche Bedeutung hat das Meer für dich? 
Das Meer ist für mich der Inbegriff des Lebens. Das Wasser der Irischen See ist grün, selbst für Taucher tief unter der Wasseroberfläche, eine dicke Suppe aus Nährstoffen und Aufzuchttieren, die zu gegebener Zeit herausgespült werden, um die Ozeane der Welt zu bevölkern und aufzufüllen. Das Meer ist wechselhaft, unberechenbar und lebendig. Es ist wie ein mächtiges, wunderschönes Tier, das dich wie ein Gott auf seinem Rücken reiten lässt oder dich wie ein Stück Unkraut gegen die Felsen presst, wann immer es will. Ich schlafe nie gut, wenn ich mehr als ein paar Meilen von ihm entfernt bin, denn es ist die Unterströmung, der Klang und die Bewegung in meinem Leben. Als Inselbewohner haben die Iren diese innere Verbindung zum Salzwasser und brauchen es. Seen und Pools reichen nicht aus. Es müssen die Brandung, der Druck und die Kraft des Meeres sein.

Was erhoffst du dir von der Lektüre von ›Mitternachtsschwimmer‹ für deine Leser*innen?
Jede Leserin und jeder Leser ist anders, und ich war oft überrascht von den Reaktionen auf meinen Roman. Einige waren fasziniert von der malerischen und altmodischen Lebensweise, die geschildert wird, andere von der Hauptfigur Grace, einer starken Frau in einer harten, einsamen Welt. Es gab jene, die sich vor allem für Luca interessiert haben, ein kleiner Junge mit großen Problemen, während wieder andere von Becky, der Ladenphilosophin, begeistert waren. Ich hoffe einfach, dass die Leser*innen sich von der Geschichte insgesamt angesprochen fühlen und unabhängig von ihren Lebensumständen neue Hoffnung schöpfen, denn der Roman feiert vor allem die Zähigkeit der Menschen in der Not und den Triumph der Hoffnung über die Verzweiflung.

(Das Interview führte Nora Tomaschoff.)

Andrea O'Brien

ANDREA O’BRIEN übersetzt seit vielen Jahren zeitgenössische Literatur aus den englischen Sprachen und wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach...
ANDREA O’BRIEN übersetzt seit vielen Jahren zeitgenössische Literatur aus den englischen Sprachen und wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in München.

Roisin Maguire

ROISIN MAGUIRE lebt in Nordirland und hat Kreatives Schreiben an der Queen’s University studiert. Sie hat als Türsteherin in einem Nachtclub, als...
ROISIN MAGUIRE lebt in Nordirland und hat Kreatives Schreiben an der Queen’s University studiert. Sie hat als Türsteherin in einem Nachtclub, als Busfahrerin und Grundschullehrerin gearbeitet und ist begeisterte Sporttaucherin, Anglerin und Ganzjahresschwimmerin.

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