Mit Rónán Hessions »Leonard und Paul« und Roisin Maguires »Mitternachtsschwimmer« sind in diesem Sommer gleich zwei Romane irischer Autor*innen bei DuMont erschienen. Beide Titel wurden von Andrea O’Brien ins Deutsche übertragen und konnten bereits viele Leser*innen und Buchhändler*innen begeistern. So stieg »Leonard und Paul« direkt auf Platz 14 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein (Belletristik Taschenbuch), nachdem die Hardcover-Ausgabe u. a. schon auf der Shortlist für das »Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen« rangierte. Auch die »Mitternachtsschwimmer« zählten sofort zu den 50 meistverkauften Romanen im Hardcover-Format.
Andrea O’Brien übersetzt seit vielen Jahren zeitgenössische Literatur aus den englischen Sprachen und wurde für ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in München. Für uns hat sie sich dankenswerterweise die Zeit für ein Interview genommen:
Liebe Andrea, mit »Mitternachtsschwimmer« (Autorin: Roisin Maguire) und »Leonard und Paul« (Autor: Rónán Hession / neu als Taschenbuch) sind im Juli gleich zwei von Dir übersetzte Romane bei DuMont erschienen. Was zeichnet diese beiden Titel aus Deiner Sicht aus?
Mir scheint, dass beide Romane diese bemerkenswerte Eigenschaft besitzen, die irische Literatur so besonders macht: Sie erzählen Geschichten von Menschen für Menschen. Beide Romane drehen sich um das, was die Welt im Innersten zusammenhält – und das sind keine großen Dramen, sondern kleine, feine persönliche Lebensgeschichten, immer intim, immer mit Wohlwollen erzählt, diese Geschichten rühren uns an, denn sie behandeln Themen, die persönlich sind, uns aber alle verbinden.
Sind Dir die Übersetzungen der beiden Romane leicht von der Hand gegangen? Wie fühlst Du Dich grundsätzlich in einen Text und dessen Besonderheiten ein? (Während »Mitternachtsschwimmer« u. a. von den ganz wunderbaren Naturbeschreibungen lebt, ist es bei »Leonard und Paul« u. a. der außergewöhnlich schöne Erzählton und das Zwischenmenschliche.) Vielleicht kannst Du uns ein wenig auf den Prozess mitnehmen?
Als Übersetzerin bin ich Leserin und Autorin in einer Person, das bedeutet, ich erfasse einen Text zunächst mal über die Sinne und versuche dann, diesen Sinneseindruck, den der Text und die Sprache des Originals bei mir hinterlassen haben, diese besondere „Schwingung“, wenn man so will, auch in der deutschen Sprache auszulösen, indem ich das Original mit all seinen Besonderheiten, also dem individuellen Ton, dem Duktus, der Haltung, dem Rhythmus, Wortspielen, bewussten Assoziationseinladungen, seinen Wunderlichkeiten und Idiosynkrasien erfasse und in meiner Sprache wiedergebe. Das ist nicht immer leicht, vieles muss ich erst eine Weile auf mich wirken lassen, bevor ich eine deutsche Entsprechung dafür finde, es ist ein feines Austarieren, die viel zitierte Gratwanderung zwischen den beiden Sprachwelten, aber immer ein großes Glück, wenn es am Ende gelingt.
Sind Dir bestimmte Textpassagen / Kapitel in Erinnerung geblieben? Zum Beispiel, weil diese ein hohes Maß an Kreativität erforderten, um eine sinnvolle Entsprechung für das Original zu finden?
Bei Leonard und Paul waren es die Situationskomik und der unterschwellige Humor – und natürlich die deutsche Übersetzung des Slogans, mit dem Paul die Ausschreibung gewinnt.
Bei Roísín Maguire waren es mehrere Dinge, da war zunächst Grace' Ruppigkeit und ihr bisweilen schräger Blick auf die Dinge, der sich ja auch in ihrer Sprache widerspiegelt, aber auch die Naturbeschreibungen waren eine besondere Herausforderung, das Englische kommt da vermeintlich poetischer daher, aber auch das Deutsche hat eine Menge zu bieten, man muss es nur finden.
Wie bist Du überhaupt zum Übersetzen gekommen? Gibt es Projekte, auf die Du nach 20 Jahren der Tätigkeit besonders gerne zurückblickst (zum Beispiel die allererste Übersetzung)?
Ich weiß noch genau, als ich mit fünfzehn Jahren bei der Berufsberatung des Arbeitsamts saß – das war damals Teil des Unterrichts – und dem Berater sagte: Ich will Literaturübersetzerin werden. Seine Antwort: Für diesen Beruf gibt es keine Ausbildung. Und technische Übersetzer verdienen schlecht, überlegen Sie sich lieber was anderes. Daraufhin habe ich dann erstmal Anglistik und Germanistik studiert, meinen Wunsch, Literaturübersetzerin zu werden, aber nie aufgegeben. Es war ein langer, schwieriger Weg dorthin, aber es hat funktioniert, und ich bin sehr glücklich darüber. Es gibt also keinen einzelnen Moment, auf den ich heute gern zurückblicke, sondern ein ganzer langer Weg, wie wenn man einen Gipfel erreicht hat und zurückblickt auf die Strecke, die man schon zurückgelegt hat, um dort anzukommen.
Gibt es Autor*innen, die Du irgendwann gerne mal übersetzen würdest, weil Du ihre Texte persönlich sehr schätzt?
Immer wieder begegnen mir Autorinnen und Autoren, die mich begeistern, daher würde ich mich nicht nur auf eine Person konzentrieren, denn gerade die Vielfalt der Literatur fasziniert mich, oft sind es Zufallstreffer, Bücher, die mich aus dem Off „erwischen“, volle Breitseite, völlig außerhalb meines Beuteschemas. Und auffällig häufig sind es irische Romane, die mich so tief beeindrucken. Deshalb würde ich mir wünschen, mehr irische Literatur zu übersetzen, nicht zuletzt, weil ich einen sehr engen Bezug zu diesem Land und seiner Kultur habe.
Irische Literatur erfreut sich hierzulande einer immer größer werdenden Beliebtheit (Roisin Maguire, Rónán Hession, Colm Tóibín, Sebastian Barry, Paul Murray, Claire Keegan, Sally Rooney, John Boyne, …). Hast Du eine Erklärung dafür? Was zeichnet irische Literatur aus Deiner Sicht aus?
In Irland hat das ur-menschliche Konzept, dass sich Menschen Geschichten erzählen, um Gemeinschaft zu stiften, schon aufgrund der Kultur und Geschichte des Landes noch immer einen anderen Stellenwert als beispielsweise bei uns. Die Tradition des seanchaí, wie in Irland der Geschichtenerzähler genannt wurde, war noch bis vor Kurzem in vielen irischen Dörfern sehr präsent, irische Mythen, Legenden, Märchen haben in der irischen Kultur und Geschichte eine lange und bedeutungsvolle Tradition, und ich glaube, das prägt das Selbstverständnis irischer Autoren und Autorinnen, die Art und Haltung, mit der sie schreiben. Auch die gesellschaftliche Situation spiegelt sich natürlich in der Literatur wider, da werden – wie bereits erwähnt – Themen verhandelt, die persönlich scheinen, aber universell sind, sie betreffen uns, bewegen uns, rühren uns an und schaffen so eine tiefe zwischenmenschliche Verbindung. Das geschieht meist auf eine ganz besondere Weise, nämlich nicht explizit. In vielen irischen Romanen werden vermeintlich „kleine“ Geschichten erzählt, die an der Oberfläche ruhig dahinfließen, auf manche vielleicht sogar banal wirken, aber darunter brodelt eine ganze Welt. Und das ist für mich der spezielle Reiz und darin liegt, glaube ich, auch der Erfolg der irischen Literatur.
Abschließende Frage: Welches Übersetzungsprojekt hast Du zuletzt abgeschlossen und wann dürfen wir uns auf die Veröffentlichung freuen?
Gerade habe ich die Übersetzung von Rónán Hessions neuestem Roman »Ghost Mountain« abgeschlossen, die im Oktober unter demselben Titel beim Blessing Verlag erscheinen wird. Ein sehr beeindruckender Roman, der die deutschen Leserinnen und Leser hoffentlich so sehr begeistert wie mich.
Herzlichen Dank, liebe Andrea!
(Das Interview führte Torsten Woywod.)
Weitere Informationen über Andrea O'Brien finden Sie auf der Website der Übersetzerin.