Und es geht weiter, weiter, weiter …
Das Rezensieren dieses Buches, das das Genre Roman hat, aber sich nicht wie ein Roman flüssig und schon gar nicht leicht gelesen. Zu Beginn war ich unsicher, ober ich überhaupt weiterlesen möchte, aber Seite um Seite habe ich mich „dem Mittelpunkt der Erde“ genähert und es war tatsächlich spannend, Judith Kuckarts 12. Roman bis zur letzten Seite zu folgen. Dort findet sich dieses Gedicht „Telegramm – Nicht wichtig / ist / was man aus uns gemacht hat / wichtig ist / was wir aus dem machen / was man / aus uns gemacht hat. *“
Ich habe selbst im letzten Jahr versucht, für meine Tochter einige Erinnerungen aufzuschreiben, die einzelnen Kapitel nannte ich „Gedankensplitter“. Nun begegne ich einem Roman, der aus solchen Erinnerungen an Kindheit, Jugend, Liebe und anderes besteht, aus vielen Gedankensplittern eben. Das hat mich beim Lesen mehr und mehr fasziniert, obwohl der Beginn des Romans schon sehr holperig und sprunghaft erschien. Ja, man muss sich darauf einlassen, dass hier Gedanken, Träume, echte Erinnerungen und fliegende Ideen ineinandergreifen. Ich kenne den Begriff autofiktional, vielleicht trifft er ja zu. Beim Lesen jedenfalls hatte ich das Gefühl, in einen wolkigen Himmel zu schauen und je länger ich schaute und las, um so mehr erschienen Gesichter, Umrisse von Gebäuden, Tiere und Stadtsilhouetten vor meinem geistigen Auge.
Judith Kuckart ist fünf Jahre jünger als ich, aber wir gehören beide dieser ominösen sogenannten Babyboomergeneration an, habe Ähnliches und doch ganz Verschiedenes erlebt. Sie vor der Mauer im Ruhrgebiet, ich in Ostberlin. Oder war sie hinter der Mauer und ich davor? Eine Frage der Perspektive. Sie sagt Grenzübergang Moritzplatz, ich sage Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Ich kannte bis heute Judith Kuckarts Namen nicht, Tanz ist nicht unbedingt in meinem Fokus (gewesen) und ihre Romane sind leider alle ungelesen an mir vorbeigezogen. Umso froher bin ich, Judith Kuckart jetzt kennengelernt zu haben. In einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, wie sie in der Bundesrepublik auch nur selten so sichtbar waren, stellt sie sich der Frage nach dem Woher und Wohin. Und sie beschreibt auf sehr eigene Art den Weg dazwischen. Vom Kind, vom Mädchen zur Frau, immer mit eigenem Kopf und eigenen Gedanken. Nur so konnte sie etwas werden, was sich von anderen abhebt und beachtet wird.
Der bruchstückhafte Erzählstil wird unterbrochen von den zwölf „Kantinen“-Kapiteln. Und mit diesen Kapiteln kommen die Begegnungen mit Eva K., geheimnisvoll, verwirrend, anziehend, ermunternd, wie auch immer, Eva K. bleibt beinahe bis zum Schluss. Mir hat diese Art, den (Lebens)-Kreis zu schließen dann doch sehr gefallen. Auch die anderen Protagonisten sind liebevoll und zugewandt beschrieben, selbst Methusalem, den älteren und jahrelangen Lebensgefährten kann ich mir hundertprozentig vorstellen. Einfach berührend, wie Judith Kuckart auf ihre Freunde, Bekannten und Zeitgenossen blickt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es sehr schwer ist, über die eigenen Eltern oder Verwandten zu schreiben, das ist immer auch eine Gratwanderung. Der Autorin gelingt auch das gut, es gibt eben einfach nicht immer nur eitel Sonnenschein in den Erinnerungen an ein ganzes Leben.
Eingestreut in die Texte sind Fotos, bei manchen erschließt sich der Sinn, manche hätten vielleicht einen kleinen Bildtext benötig.
Das Cover kenne ich nur durch das E-Book, wie es gedruckt wirkt, weiß ich nicht, es ist nicht ganz mein Geschmack, aber der Buchtitel ließ mich bei der Ankündigung aufhorchen. Jeder kann da seine Empfindungen hineininterpretieren. Irgendwann ist die Mauer weg und es zieht um alle Ecken in Berlin, dazwischen eben das Leben, der aufgewirbelte Staub und die Liebe und der Tod.
Ich hoffe, Judith Kuckart, braucht noch keine Stützstrümpfe, und wenn, bringt sie das hoffentlich nicht um. Aber was ich mir wünsche, ist, dass sie niemals wieder eine Lehrerin verbessert und meint, es heiße nicht Lehrerzimmer, sondern LehrerInnenzimmer. Oder sollte das ein Witz sein? Da kann ich leider nicht drüber lachen. Auch Studierende und Tanzende muss ich nicht unbedingt haben, wenn es sich um schlichte Studenten oder Tänzer handelt.
Trotz Kritiken: Gern empfehle ich das Buch, es könnte aber sein, dass manche Leser es wieder weglegen, weil sie mit dieser Zeit zwischen Ost und West und den zwölf Kantinen nichts anfangen können. Bei mir hat das Buch jedenfalls viele Erinnerungen getriggert, Dinge, an die ich schon Jahre nicht mehr gedacht habe.
Die Rezensionsüberschrift ist ein Zitat
Gute vier Sterne
Diese Rezension geht am 13.8.24 in die Öffentlichkeit.
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[Dieser Abschnitt ist nur für netgalley.de und den DuMont Verlag, ich werde ihn in der öffentlichen Rezension nicht stehen lassen:
Warum habe ich mir gerade dieses Buch aus den vielen Angeboten bei Netgalley.de gewünscht? Ich heiße selbst Judith, da schaut man schon ein zweites Mal hin. Ich bin aus der gleichen Generation und interessiere mich sehr für biografische Romane. Die Annotation informierte mich über die Autorin und kurz über den Inhalt, beides fand ich interessant.
Warum habe ich das Buch, obwohl mir der Schreibstil zu Beginn überhaupt nicht zugesagt hat, überhaupt weitergelesen? Die Autorin bekam den Vornamen Judith und als zweiten Martina. In umgekehrter Reihenfolge erhielt ihre spätere Freundin ihre Vornamen. Das ist mehr als witzig. Denn auch ich sollte eigentlich Martina heißen, zur Erinnerung an meinen in Auschwitz ermordeten Großvater, wurde aber eine Judith mit zweitem Namen Marion. Dass mir unter diesen Vorzeichen das Weiterlesen Spaß gemacht hat, ist vielleicht verständlich. Dass man der Judith Kuckert etwas Jüdisches nachsagte, weil sie „so aussah“ und dicke schwarze Haare hatte, das fand ich irgendwie berührend. Ob bei ihr jüdische Vorfahren existieren oder nicht, ist dabei nebensächlich. Köstlich amüsiert hat mich der Satz „Mit Ihrer Türkin da müssen Sie in den dritten Stock.“ Auch ich wurde in jungen Jahre in Ostberlin eher für ausländisch gehalten, da es in der DDR keine Türken gab, wurde gefragt, ob ich aus Kuba sei.
Was gefiel mir am besten? Es sind einfach so viele Trigger in diesem Buch, die mir das Weiterlesen erleichtert habe. Sei es das Ruhrgebiet, dort wurde mein Vater geboren, sei es Wuppertal, das ich kenne und besonders die dortige Schwebebahn, die ich liebe. Oder Berlin, alles in Berlin kenne ich, was beschrieben wird, und verbinde es mit Erinnerungen aller Art. Dass zum Beispiel aus dem Wort Kinderlandverschickung die Kinderlandverschleppung entstand, fand ich köstlich, obwohl ich „hinter der Mauer“ solche Kuren in allerbester Erinnerung habe. Ich kam da immer wohlgenährt und puppenlustig wieder nach Hause zurück.
Am Ende war ich wirklich Eins geworden mit dem Buch und der Autorin. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen von einem Buch. Also danke dafür! Judith Marion Schewe]